Solidarität mit dem Aufbruch Lateinamerikas zur »Zweiten Unabhängigkeit«

Öffentliche Anhörung der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag am 11. Mai 2010

Im Vorfeld des EU-Lateinamerika-Gipfels in Madrid diskutierten am 11. Mai im Deutschen Bundestag auf Einladung der Fraktion DIE LINKE über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter zahlreiche Gäste aus Lateinamerika, über Perspektiven der europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen. Dreizehn lateinamerikanische Botschaften schickten VertreterInnen zur Anhörung, die Botschafter von Bolivien, Ecuador, Honduras und Haiti sowie die GeschäftsträgerInnen von Venezuela und Nicaragua nahmen persönlich teil.

DIE LINKE und ihre Gäste waren sich einig in ihrer Ablehnung des Freihandelsabkommens EU-Kolumbien-Peru und des Assoziierungsabkommens EU-Zentralamerika, die beide in Madrid abgeschlossen werden sollten. Von der Anhörung ging eine Botschaft der Solidarität an MenschenrechtsverteidigerInnen, GewerkschafterInnen und FriedensaktivistInnen aus, die in Kolumbien und Honduras für ihre demokratischen und sozialen Rechte kämpfen und dabei großen Gefahren und Repressionen ausgesetzt sind und deren Engagement zunehmend kriminalisiert wird. Die kolumbianische Senatorin Piedad Cordoba, die ebenfalls zur Anhörung eingeladen gewesen war, wegen Gerichtsterminen aber nicht anreisen konnte, wurde von der Versammlung gegrüßt.

Die historische Dimension

Der Botschafter der Republik Ecuador, S.E. Horacio Sevilla Borja, blickte in seiner Eröffnungsrede zurück auf den antikolonialen Unabhängigkeitskampf in Lateinamerika vor 200 Jahren. Er würdigte dabei die Rolle Haitis als erster unabhängiger Staat der Region und erste Republik von schwarzen Menschen weltweit. Sevilla Borja rief die große Vision des Befreiers Simon Bolivar von einem geeinten Lateinamerika in Erinnerung. Heute, so Sevilla Borja, eröffne sich die Chance, diese Vision, die sich seinerzeit nicht erfüllte, doch noch zu verwirklichen. Mit der Gründung der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELC) im Februar dieses Jahres sei ein bedeutsamer Schritt in Richtung der lateinamerikanischen Einheit gegangen worden. Ziel der CELC sei, die soziale und ökonomische Integration und Entwicklung Lateinamerikas durch gemeinsame Projekte voranzutreiben.

Anhand der persönlichen Biografien der lateinamerikanischen Präsidenten machte Sevilla Borja deutlich, welch ein Wandel bereits stattgefunden habe, der es nun ermöglichte, dass Frauen (Argentinien, Chile), Indigene (Bolivien), ehemalige Untergrundkämpfer und Guerilleros (Uruguay, Nicaragua), linke Wissenschaftler (Ecuador), kritische Militärs (Venezuela), Befreiungstheologen (Paraguay) in die höchsten Staatsämter gewählt wurden. Er forderte aber einen noch viel grundlegenderen Wandel ein – die Überwindung der neokolonialen Wirtschaftsordnung, die die koloniale abgelöst hatte. Denn diese Wirtschaftsordnung habe nicht Weltbürger, sondern „globale Konsumenten“ hervorgebracht, so Sevilla Borja.

Der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Dr. Gregor Gysi, verwies auf die historische Schuld Europas gegenüber Lateinamerika, auf Jahrhunderte kolonialer und post-kolonialer Ausplünderung, die den Grundstein für die wirtschaftliche Entwicklung Europas gelegt hat. Er appellierte im Hinblick auf den EU-Lateinamerika-Gipfel an das gewachsene Selbstbewusstsein der LateinamerikanerInnen gegenüber der EU. Sein Plädoyer für interkontinentale Beziehungen, die Lateinamerika nützen und der EU nicht schaden sollen, ergänzte die entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion, Heike Hänsel: Die Beziehungen sollen vor allem nicht im Interesse der EU-Konzerne, sondern zum Nutzen der Bevölkerung hier und dort gestaltet werden.

Unterstützung für MenschenrechtsverteidigerInnen in Honduras und Kolumbien

ReferentInnen aus Honduras, Brasilien und Kolumbien brachten ihre entschiedene Ablehnung der Freihandels- bzw. Assoziierungsabkommen zu Ausdruck, welche die EU mit lateinamerikanischen Staatengruppen abschließen möchte. Die Verhandlungsziele der Europäischen Union sind auf freien Marktzugang, das heißt Wettbewerb und Verdrängung ausgerichtet und stehen damit im klaren Gegensatz zu den politischen und wirtschaftlichen Integrationsprozessen in Lateinamerika. Kjeld Jakobsen vom brasilianischen Gewerkschaftsdachverband CUT kritisierte, dass die EU in ihren Verhandlungen mit den Ländern des MERCOSUR (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Venezuela) ihre neoliberale Agenda trotz der Erfahrungen der Wirtschaftskrise nicht zu verändern bereit sei. Brasilien verweigere sich jedoch den Liberalisierungszielen der EU insbesondere im Bereich des Öffentlichen Beschaffungswesens und der Daseinsvorsorge. Auch in Zentralamerika, Kolumbien und Peru protestieren Gewerkschaften und soziale Organisationen gegen die negativen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen, die von den Abkommen zu erwarten sind.

Im Falle von Kolumbien und Honduras kommt hinzu, dass der Abschluss der Abkommen die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in beiden Ländern ignorieren und die dafür verantwortlichen Regierungen international stützen würde. In Honduras würde auf diese Weise der Putsch vom Juni 2009 nachträglich legitimiert, obwohl die Menschenrechtsverletzungen, die unter dem Putschregime von Roberto Micheletti begangen wurden, nicht aufgearbeitet und geahndet werden und obwohl auch unter der neuen Regierung des Staatschefs Porfirio Lobo Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Der Widerstand gegen das Assoziierungsabkommen EU-Zentralamerika und der Widerstand gegen die illegitime Regierung Lobo gehen deshalb Hand in Hand, so die honduranische Menschenrechtsaktivistin Lorena Zelaya vom Bloque Popular. Der Bloque Popular sieht sich als legitimer Ansprechpartner in Honduras. Jakobsen und Zelaya begrüßten in diesem Zusammenhang, dass der südamerikanische Staatenbund UNASUR im Vorfeld des EU-Lateinamerika-Gipfels gedroht hatte, den Gipfel zu boykottieren, sollte Porfirio Lobo daran teilnehmen. Die spanische Ratspräsidentschaft musste daraufhin die Einladung an Lobo zurücknehmen. Dass es jedoch überhaupt zu einer solchen Einladung gekommen war, wurde der EU als „Arroganz der Macht“ ausgelegt.

Auf dem parallel zum Gipfel in Madrid stattfindenden Gegengipfel „Enlazando Alternativas“ wird die Unterstützung für den demokratischen Widerstand in Honduras eine zentrale Rolle spielen, kündigte Heike Hänsel an, die für die Fraktion DIE LINKE daran teilnehmen wird. Ein anderer Schwerpunkt der Proteste wird die auf dem Gipfel anstehende Unterzeichnung des Freihandelsabkommens EU-Kolumbien-Peru sein, durch das die Politik der sogenannten Demokratischen Sicherheit des kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe und die damit verbundenen systematischen Menschenrechtsverletzungen unterstützt und befördert werden.

Aus Kolumbien berichteten Danilo Rueda, Aktivist der „KolumbianerInnen für den Frieden“, der Schriftsteller Yesid Arteta und der deutsche Autor Raul Zelik, der an der Universität von Medellin doziert, davon, wie die kriegerische Situation in Kolumbien die gesamte Region gefährdet und militarisiert. Dazu haben die aggressive Drogen- und Aufstandsbekämpfung der USA im Rahmen des Plan Colombia, die Einrichtung neuer US-Stützpunkte in Kolumbien und auf den benachbarten niederländischen Karibikinseln beigetragen. Benachbarte, links regierte Staaten wie Venezuela, Ecuador und Brasilien fühlten sich von dieser militärischen Einkreisung bedroht, so die Referenten. Ungeachtet der andauernden Gewalt in Kolumbien, ungeachtet der politischen Morde und Repression in Kolumbien wird die zivil-militärische Aufstandsbekämpfung im Rahmen der „Demokratischen Sicherheit“ von Deutschland politisch unterstützt. Die Sprecherin für Internationale Beziehungen, Sevim Dag˘delen, formulierte deshalb die scharfe Kritik der Fraktion DIE LINKE an der deutschen und europäischen Kolumbien-Politik, an der Militärhilfe, an der Polizeiausbildung und an den Rüstungsexporten.

Während die kolumbianische Regierung weiterhin darauf setzt, die Guerilla-Armeen militärisch besiegen zu können, setzen sich die „KolumbianerInnen für den Frieden“ für die Anerkennung des Gewaltkonfliktes und einen humanitären Gefangenenaustausch als Beginn einer politischen Verhandlungslösung in Kolumbien ein. Vor dem Hintergrund der engen Verflechtung paramilitärischer Strukturen mit unternehmerischen Interessen und politischer Macht betonte Danilo Rueda die Notwendigkeit, die kolumbianische Gesellschaft umfassend zu demokratisieren und die extreme soziale Polarisierung zu überwinden, um Perspektiven für einen nachhaltigen Frieden zu eröffnen. Die geplanten Handelsabkommen würden den sozialen Konflikt dagegen verschärfen.

Solidarische Alternativen zum Freihandel

Den neoliberalen Handelsdiktaten der Europäischen Union werden in Lateinamerika neue Ansätze eines solidarischen Handels entgegengesetzt. Regionale Integrationsprojekte und solidarische Zusammenarbeit haben bereits viel zur Überwindung von Armut in Lateinamerika beigetragen. Im Rahmen der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA), der seit der Gründung durch Venezuela und Kuba im Jahr 2004 zahlreiche weitere Staaten beigetreten sind, wird ein komplementärer Austausch von Waren und Dienstleistungen organisiert. Die zunehmende Kooperation von ALBA mit dem ökonomisch stärksten Staatenbund Südamerikas MERCOSUR trägt zur Vertiefung und Verfestigung der regionalen Integration und zur ökonomischen Eigenständigkeit Lateinamerikas bei. Mit der Gründung regionaler Entwicklungsbanken wie Banco del Sur und Banco de ALBA und der Einrichtung der gemeinsamen Währung „Sucre“ erweitern sich die Spielräume für eine selbständige Entwicklung und verringern sich die Möglichkeiten zur Einflussnahme durch die von den USA und der Europäischen Union beherrschten multilateralen Banken.

Auf diese Ansätze nahm ein Antrag der Fraktion DIE LINKE (Bundestagsdrucksache 17/1403), den sie im Vorfeld des EU-Lateinamerika-Gipfels in den Bundestag einbrachte, positiv Bezug. DIE LINKE unterstützt als einzige Fraktion uneingeschränkt die eigenständigen Integrationsformen in Lateinamerika. Umgekehrt profitiert die Linke weltweit davon, dass in Lateinamerika politische Alternativen konkret erprobt werden und sich damit Perspektiven für eine andere Weltwirtschaftsordnung – auch in Europa -eröffnen.

»Planeta o Capitalismo« – der Planet oder der Kapitalismus

Neue Impulse kommen aus Lateinamerika auch für eine alternative Klimapolitik. Der Botschafter des Plurinationalen Staates Bolivien, S.E. Walter Magne Veliz, berichtete von der Weltklimakonferenz der Völker, zu der der bolivianische Präsident Evo Morales Mitte April nach Cochabamba eingeladen hatte. 30.000 Menschen aus 140 Ländern hatten daran teilgenommen, 56 Regierungen Vertreter geschickt. Die Bundesregierung war nicht darunter. Klimapolitik, so der Botschafter, solle nicht neue Märkte erschließen, sondern die Rechte der „Mutter Erde“ verwirklichen und den Menschen ein „gutes Leben“ im Einklang mit der Natur ermöglichen. Die Abschlusserklärung von Cochabamba hebt in diesem Sinne das Recht auf sauberes Wasser, saubere Luft, auf Gesundheit und den Schutz vor radioaktiver Verunreinigung und Genmanipulation hervor und fordert einen Internationalen Klimagerichtshof. Im Kapitalismus sei die Verwirklichung dieser Rechte nicht möglich, so der Botschafter. „Planeta o muerte“, der Planet oder der Tod – diesen Ausruf des bolivianischen Präsidenten wandelte Heike Hänsel ab in „Planeta o capitalismo“, der Planet oder der Kapitalismus. Der Botschafter forderte den Einsatz für eine neue Weltwirtschaftsordnung, die auch das Verhältnis von Mensch und Natur radikal verändern muss. Der Sozialismus, so der Botschafter, sei „ein Teil dieses Weges“.

Solidarität – nicht punktuell, sondern mit politischer Perspektive

In der abschließenden Diskussion wurden DIE LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung aufgefordert, langfristige Strategien zur Unterstützung progressiver Bewegungen in Lateinamerika zu entwickeln, um der erfolgreichen, aber oftmals anti-demokratischen Arbeit anderer Stiftungen etwas entgegensetzen zu können. Diese Notwendigkeit wurde unter anderem am Beispiel von Honduras erläutert, wo die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung seit Jahrzehnten die politische Entwicklung kontrolliert und zuletzt durch die offene Unterstützung eines Putsches einen sozialen und demokratischen Aufbruch des Landes erfolgreich mit verhindert hatte. Auch in anderen Ländern – beispielsweise in Nicaragua – sei die Wühlarbeit der anderen politischen Stiftungen gezielt darauf ausgerichtet, fortschrittliche Kräfte zu schwächen. Diese Kräfte benötigen unsere Unterstützung – nicht punktuell, sondern mit einer langfristigen politischen Perspektive. Zahlreiche VertreterInnen von lateinamerikanischen Botschaften und von Soli-Gruppen drückten in diesem Sinne der Fraktion DIE LINKE ihre Dankbarkeit für das bereits Geleistete, aber auch ihre großen Erwartungen in die künftige Zusammenarbeit aus.

In diesem Sinne formulierte der Außenpolitische Sprecher der Fraktion, Wolfgang Gehrcke, die Aufgabe, eine alternative strategische Partnerschaft mit Lateinamerika zu formulieren, und lud die lateinamerikanischen GenossInnen zur Teilnahme an der Programmdebatte unserer Partei ein.

Von Dr. Alexander King, Referent für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Kommentare sind geschlossen.