Antrag Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten Nationen – Soziale Ungleichheit weltweit überwinden

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) der Vereinten Nationen (VN) für das Jahr 2015 waren eine ehrgeizige Agenda für die internationale Entwicklungszusammenarbeit seit 2001. Ein Jahr vor dem Auslaufen der MDGs ist jedoch festzustellen, dass die Bilanz nicht durchweg positiv ausfällt. Einerseits konnten in vielen Ländern große Fortschritte in der menschlichen Entwicklung erzielt werden. Andere Länder bleiben jedoch in der Zielerfüllung weit zurück. Insgesamt bleibt die Bekämpfung von Hunger und Armut als zentrale Herausforderung auch für die Zeit nach 2015 bestehen. Insofern offenbaren sich mit der durchwachsenen Bilanz auch Konstruktionsfehler der MDGs: Die Ziele waren nur auf Veränderungen in den Ländern des Südens ausgerichtet, Veränderungsbedarf an der Politik der Länder des Nordens war nicht formuliert worden, Faktoren, die strukturell auf globaler Ebene die Bedingungen für Entwicklung vorgeben, waren ebenfalls nicht Gegenstand der MDGs. Der Bundestag begrüßt deshalb, dass im Folgeprozess, der zu einem neuen Zielkatalog der VN mit „Nachhaltigen Entwicklungszielen“ (SDGs) führen soll, eine breitere Themenpalette angesprochen wird.

Die Ziele sollen so universell formuliert werden, dass sie auf den Süden ebenso wie auf den Norden angewandt werden können, die Verantwortung des Nordens soll verstärkt und es sollen strukturelle Veränderungen angestrebt werden, um Armutsbekämpfung, Entwicklung und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu ermöglichen. Insofern bietet der Post-2015-Prozess die Chance, eine breite Debatte über die Zukunft unserer Gesellschaften zu initiieren – auch in Deutschland. Die Wirtschafts- und Finanzmarktkrisen der vergangenen Jahre haben deutlich gemacht, dass diese Debatte dringend notwendig ist. Voraussetzung dafür ist, dass die Diskussion der Nachhaltigkeitsziele über die zuständigen VNGremien wie die Open Working Group und die Financing Group hinausgetragen wird. Der Bundestag setzt auf den aktiven Einsatz der deutschen Vertreterinnen und Vertreter in diesen Gremien für eine möglichst breite Öffnung der Debatte. Neue global geltende Nachhaltigkeitsziele müssen mit breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft im Norden und Süden entwickelt werden. In Deutschland sollen bundesweit öffentliche Foren unter Beteiligung von Entwicklungsorganisationen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Umweltverbänden, Schulen, Universitäten, Städte- und Gemeindetag organisiert werden, um die SDGs ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und Ideen, Vorschläge und Handlungsoptionen zu sammeln und aufzugreifen.
2. Viele Zielsetzungen, über die im Rahmen des Post-2015-Prozesses verhandelt wird, werden heute bereits durch die reale Politik unterminiert. Die Europäische Union (EU) bereitet Freihandelsabkommen mit den USA, mit Indien und anderen Ländern sowie Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) mit afrikanischen Ländern vor. Diese Abkommen werden nachhaltige Entwicklung verhindern, denn sie setzen auf dieselbe exportorientierte Wachstumsstrategie, die in der EU bereits zu einer tiefen Krise geführt hat. Sie setzen zugleich die entwicklungspolitischen Strategien fort, die in den 90er-Jahren als Strukturanpassungsprogramme in den Ländern des Südens durchgesetzt wurden und dort seither eine selbstbestimmte Entwicklung verhindern und durch den Abbau staatlicher Basisversorgung und Infrastruktur staatliche Fragilität befördern. Die Wirtschafts- und Finanzmarktkrisen seit 2008 verdeutlichen, wie sehr die Entfesselung der Märkte die politischen Handlungsspielräume eingeengt hat. Die soziale Ungleichheit wächst sowohl im internationalen Maßstab als auch innerhalb vieler Länder. Neoliberale Wirtschaftsstrategien haben den gesellschaftlichen Reichtum, den die Lohnabhängigen erwirtschaften, von unten nach oben und von der öffentlichen in private Hände umverteilt. Während die Armut in den Ländern des Südens immer noch groß ist, hält sie nun auch in die Länder des Nordens Einzug. Gleichzeitig wachsen die privaten Vermögen: Die 85 reichsten Menschen der Welt verfügen über dasselbe Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit. Damit verbindet sich eine Machtkonzentration, die die demokratischen Fundamente weltweit massiv bedroht.
3. Einige Länder in Lateinamerika haben die Abkehr von neoliberaler Politik vollzogen und beginnen, ihre Gesellschaften umzugestalten. Im Rahmen demokratisch organisierter Verfassungsprozesse wurden beispielsweise in Venezuela, Bolivien und Ecuador neue Formen der politischen Teilnahme und soziale Rechte verankert. Der Staat übernimmt dort wieder die Kontrolle über strategische Wirtschaftszweige wie Energieversorgung oder Transport. Diese Länder organisieren solidarische Handelsbeziehungen und damit eine praktische Alternative zur Freihandelspolitik der Europäischen Union. Der Bundestag erkennt in diesen Prozessen wichtige Anstöße, die in die Debatte um die SDGs und den Post-2015-Prozess aufgenommen werden sollen. Die globalen wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse spiegeln sich im Verlauf der Debatte genauso wider wie die unterschiedlichen Interessenslagen. Der Bundestag begrüßt vor diesem Hintergrund, dass sich die Mitglieder der Gruppe 77 und die VR China im Juni 2014 in Bolivien versammeln, um eine abgestimmte entwicklungspolitische Agenda zu formulieren. Eine verstärkte Süd-Süd-Kooperation muss unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten
begrüßt und befördert werden. Der Bundestag appelliert an die Verhandlungsdelegationen aus den Industrieländern, die Vorschläge aus dem Süden wohlwollend aufzunehmen.
4. Der Bundestag sieht die dringende Notwendigkeit, die internationalen Beziehungen zu demokratisieren und damit friedlich und entwicklungsförderlich zu gestalten. Selbstmandatierte Zirkel wie G7 oder G8, Weltwirtschaftsforum oder Nato-Sicherheitskonferenz, in denen Wirtschafts- und Rüstungslobbyisten den Ton angeben, sind nicht legitimiert, politische Weichenstellungen von globaler Tragweite vorzunehmen. Stattdessen müssen die wirtschafts-, finanzund sozialpolitischen Kompetenzen der Vereinten Nationen gestärkt werden. Der Bundestag erinnert an die Vorschläge, die die Stiglitz-Kommission der VN nach Ausbruch der Finanzmarktkrise unterbreitet hat, und bedauert, dass viele der damaligen interessanten Anstöße zur Reform und Stärkung der VN nicht weiterverfolgt wurden. Diese Vorschläge müssen nun im Rahmen des Post-2015-Prozesses wieder aufgenommen werden.
5. Entwicklungspolitik muss Teil einer aktiven Friedenspolitik sein. Rüstungsexporte tragen zur Verschärfung von krisenhaften Entwicklungen in vielen Ländern der Welt bei. Der Bundestag plädiert dafür, im Rahmen des Post-2015- Prozesses konkrete Abrüstungsziele zu formulieren und dabei die Anregung von Nobelpreisträgern zum Rio+20-Gipfel aufzunehmen, finanzielle Einsparungen durch Reduktion der Rüstungsausgaben über die Vereinten Nationen der globalen Entwicklungszusammenarbeit zuzuführen.
6. Die Bundesregierung hat ihre Vorschläge in einem Eckpunktepapier formuliert, mit dem sie sich in die Open Working Group der VN einbringen will. Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung und Regulierung, die elementar sind für die Ermöglichung nachhaltiger Entwicklung, greift die Bundesregierung in ihrem Eckpunktepapier nicht oder nur unzureichend auf. In diesem Sinne ist das Eckpunktepapier ungenügend und bedarf der grundsätzlichen Neuausrichtung – insbesondere, um den selbst gesteckten Anspruch von universellen Zielen zu verwirklichen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. ihr Eckpunktepapier neu zu formulieren und dabei folgende Aspekte hervorzuheben:
a) Als Leitbilder sollen Frieden, soziale und ökologische Gerechtigkeit verankert werden.
b) Im Zentrum aller Bemühungen muss der Kampf gegen Hunger und Armut stehen.
c) In den SDGs muss eine allgemeine Pro-Kopf-Obergrenze für die Inanspruchnahme globaler Gemeinschaftsgüter wie Luft, Wasser und Ressourcen festgelegt werden.
d) Die globalen Gemeinschaftsgüter sind vor Privatisierung zu schützen. 2. sich dafür einzusetzen, dass die Herstellung sozialer Gleichheit und gerechter Wirtschaftsstrukturen zentrales Anliegen der SDGs wird, und dabei folgende Aspekte in die SDG-Debatte einzubringen:
a) Spitzeneinkommen, Vermögen und Gewinne sind weltweit angemessen zu besteuern, Steuerschlupflöcher zu schließen, Steueroasen auszutrocknen.
b) Die Schulden der Länder des Südens bei OECD-Staaten sollen einem entwicklungspolitischen Audit unter Heranziehung der UNCTAD-Prinzipien für eine verantwortungsvolle Kreditvergabe unterzogen und auf dieser Grundlage als illegitim bewertete Schulden erlassen werden.
c) Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme und die Durchsetzung von angemessenen Mindestlöhnen sowie von verbindlichen Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards werden prioritäre SDGs. Globale Unternehmen müssen sich strafrechtlich verantworten, wenn sie die Standards nicht einhalten. Verbraucherinnen und Verbraucher erhalten einen Informationsanspruch gegenüber Unternehmen, zu welchen sozial-ökologischen Bedingungen ihre Produkte und Dienstleistungen entlang der gesamten Lieferkette hergestellt
werden.
d) Die Staaten verabreden sich darauf, alle bestehenden und neu entwickelten Finanzprodukte einer Zulassungspflicht durch einen Finanz-TÜV zu unterwerfen, und riskante Finanzinstrumente und Kreditverbriefungen sind zu verbieten.
e) Transaktionssteuern auf den Handel mit Wertpapieren und Devisen sind weltweit einzuführen und ihre Aufkommen in nachhaltige Entwicklung zu investieren.
f) Auf internationaler Ebene wird die Reform des Währungssystems vorbereitet mit dem Ziel, die Abhängigkeit der Wechselkurse von spekulativen Kapitalbewegungen zu beenden.
g) Spekulation mit Nahrungsmitteln muss weltweit verboten werden. Dazu müssen die Agrarmärkte mittelfristig von den Finanzmärkten getrennt und muss ein nicht marktbasiertes Verteilungssystem für Nahrungsmittel aufgebaut werden.
h) Staatliche, international koordinierte und kontrollierte Nahrungsmittelreserven sollen aufgebaut werden, um der Volatilität auf den Agrarmärkten zu begegnen und auf Nahrungskrisen reagieren zu können. 3. sich dafür einzusetzen, dass Geschlechtergerechtigkeit und die Gleichstellung der Frau als unabhängiges Ziel aufgenommen werden, die Geschlechterperspektive in alle Ziele der Post-2015-Agenda einbezogen wird und dabei folgende Aspekte besondere Beachtung finden:
a) die Bekämpfung und Überwindung aller Formen gesellschaftlicher und individueller Gewalt gegen Frauen, einschließlich in Kriegs- und Krisengebieten,
b) die Verwirklichung der vollen Gleichberechtigung der Geschlechter beim Zugang zu den öffentlichen Gütern,
c) die Beseitigung der strukturellen Diskriminierung von Frauen in allen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens,
d) die explizite Förderung frauenspezifischer Ansätze im Bereich Entwicklung und Gesundheit,
e) die Implementierung geschlechtsspezifischer Ziele soll mit Hilfe konkreter Indikatoren überprüft und Mindeststandards sollen erarbeitet werden.
4. sich für eine Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit im internationalen Maßstab einzusetzen, die sich an folgenden Prämissen orientiert:
a) Technologietransfer soll nicht in Form von Vermarktung und Wettbewerb erfolgen, sondern neue, insbesondere effiziente und ressourcenschonende Technologien sollen den Ländern des Südens zur Verfügung gestellt werden.
b) Bei den VN wird ein Kompensationsfonds eingerichtet, der den Transfer klimafreundlicher Technologien organisiert und einen volkswirtschaftlichen Ausgleich für koloniales Unrecht ermöglicht. Die Finanzierung muss von Seiten der besonders ressourcenverbrauchenden Staaten und ehemaligen Kolonialmächte erfolgen.
c) Die Entwicklungszusammenarbeit wird nicht länger mit wirtschaftspolitischen Konditionen verbunden. Das unilaterale Konzept von „Good Governance“ wird aufgegeben. Priorität muss die Rechenschaftspflicht der Empfängerländer gegenüber der eigenen Bevölkerung im Sinne nachhaltiger Entwicklung haben und nicht gegenüber den Gebern.
d) Die Entwicklungszusammenarbeit muss auf die Herstellung von Ernährungssouveränität ausgerichtet sein. Andere Politikbereiche, wie die Handelspolitik, sind ebenfalls darauf auszurichten.
e) Die Weiterverarbeitung von Rohstoffen in den Ländern des Südens muss gefördert werden. Entsprechende Maßnahmen der Länder des Südens, einschließlich der Beschränkung von Rohstoffexporten durch Zölle oder Quoten, sind zu unterstützen. 5. sich für demokratische und friedliche internationale Beziehungen einzusetzen und dabei folgende Reformen anzustoßen:
a) Der Wirtschafts- und Sozialrat der VN (ECOSOC) wird zu einem Weltwirtschaftsrat im selben Range wie der Weltsicherheitsrat weiterentwickelt.
b) Bei den VN wird eine Kartellbehörde eingerichtet, Weltbank und Internationaler Währungsfonds werden vollständig in das VN-System integriert und die Stimmrechtsverteilung wird radikal demokratisiert.
c) In allen internationalen Gremien wird der Einfluss von Wirtschafts- und Rüstungslobbyisten radikal begrenzt.
d) In den SDGs werden konkrete Abrüstungsziele vereinbart. Die eingesparten finanziellen Mittel werden in nachhaltige Entwicklung und zivile Krisenprävention investiert. Der Export von Rüstungsgütern wird verboten. Die internationalen Beziehungen werden entmilitarisiert, politische Konfliktlösungen und zivile Konfliktbearbeitung werden in den Mittelpunkt internationaler Politik gestellt.
e) Die ODA-Steuerung (Finanzierung und Festlegung von Kriterien und Anrechenbarkeit) geht von der OECD an die VN über, um die Empfängerländer von entwicklungspolitischen Transferleistungen enger an den strategischen Entscheidungen, die die Entwicklung in ihren Ländern betreffen, zu beteiligen.
6. alle Verhandlungen über Freihandelsabkommen sowie über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zu stoppen und neue entwicklungsförderliche Mandate zu formulieren.
Die Antwort als .pdf zum Download
Berlin, den 6. Mai 2014
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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