Tagblatt Sommerinterview mit Heike Hänsel

Das Sommerinterview des Schwäbischen Tagblatts ist zuerst dort erschienen und kann unter: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Heike-Haensel-Der-Mensch-muss-in-den-Mittelpunkt-469005.html abgerufen werden.

Heike Hänsel: Der Mensch muss in den Mittelpunkt

Eine Daseinsvorsorge für die Gemeinschaft ist für die Tübinger Linken-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel die wichtigste nationale Konsequenz aus der internationalen Krise. Über die Weltlage macht sie sich Sorgen. 24.08.2020

Von Lorenzo Zimmer

In den Lobgesang vieler Politiker darüber, wie gut Deutschland durch die Coronakrise gekommen sei, will die Tübinger Bundestagsabgeordnete der Linken, Heike Hänsel, beim Sommerinterview mit dem TAGBLATT nicht einstimmen. Im Gegenteil, die Oppositionspolitikerin empfindet gesellschaftliche Probleme durch das Brennglas Corona als vergrößert – oder zumindest als offenkundiger geworden: „Jetzt wird so getan, als wäre alles super gelaufen.“ Doch gerade das Gesundheitssystem habe Missstände offenbart: „Unterversorgung und Pflegenotstand einerseits und Überversorgung andererseits, etwa mit teuren technologischen Angeboten für Privatversicherte.“ Ein „echter Skandal“ seien die Bedingungen für Beschäftigte in Kliniken, Praxen und Pflegediensten gewesen: „Viele Angestellte haben sich infiziert. Und bis heute haben die wenigsten den versprochenen Corona-Bonus wirklich erhalten.“

Aufgrund von Infektionen habe es auch Kündigungen gegeben: „Schutzausrüstung hat gefehlt, Masken mussten mehrfach verwendet werden.“ Die Verteilungsmechanismen des Marktes haben in der Krise versagt, so Hänsel. „Es wurden Landkreise aktiv und haben selbst den Markt geräubert.“ Und nicht nur im Kleinen sei die Verteilung von wichtigen Gütern in der Pandemie gescheitert. „Das war eine Blamage für die Europäische Union.“ Hänsel erkennt „keine gemeinsame Initiative, sich gegenseitig zu unterstützen“ – etwas, das sie auch weltweit vermisst: „Man hätte aus den Raubzügen für Masken, Handschuhe und Schutzkleidung von Anfang an eine weltweite, gemeinsame Anstrengung machen müssen.“ Letztendlich habe die Coronakrise „eines erneut offenbart: Das Prinzip Marktwirtschaft dominiert das Gesundheitswesen, hat dort aber nichts verloren“.

Auch das Zeugnis für die politische Führung in der Pandemie fällt seitens der stellvertretenden Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag nicht gut aus: „Jens Spahn wollte den Macher darstellen, aber hat nicht das wirklich Notwendige gemacht.“ Offenkundige Probleme seien nicht behandelt, die Gefahr der Pandemie zu lange runtergespielt worden. Hänsel sieht Versäumnisse über Jahre. „Keine Masken. Keine Pandemiepläne für öffentliche Einrichtungen. Sie waren plötzlich auf sich gestellt.“ Die gesetzliche Grundlage dafür gebe es seit 2012. „Das ist verschlafen worden. Nicht nur von Jens Spahn.“

Als „Lockdown-King“ erlebte Heike Hänsel, diplomierte Ökotrophologin und seit 2005 Mitglied der damaligen Linkspartei.PDS, den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Sie kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Es ist schon wichtig, Entscheidungen zu treffen, und es war richtig, das Leben zurückzufahren. Aber ich finde den Anspruch, den starken Mann zu markieren, unangebracht.“ Profilierungen für Kanzlerkandidaturen aus einer solchen Situation ableiten zu wollen, sei unanständig.

Lehren aus der Krise seien in weiten Teilen die alten Mahnungen ihrer Partei, so Hänsel. Sie fordert einen „starken Staat der gut finanzierten staatlichen Institutionen“. Eine staatlich finanzierte Daseinsvorsorge zum Beispiel – „das sind die Schlussfolgerungen, die gezogen werden müssen“. Marktwirtschaft und Profitlogik müsse aus den Krankenhäusern verbannt werden. Dies könne so weit gehen, Krankenhauskonzerne zu enteignen und in die öffentliche Hand zu überführen, um „von vornherein falsche Privatisierungen“ rückgängig zu machen.

Im Mittelpunkt vieler Entscheidungen sieht Hänsel macht- und parteipolitische Überlegungen. Etwas, das sie nicht abkann. „Wenn man nach bestem Gewissen Entscheidungen treffen will, sollte das nicht von solchen Überlegungen überlagert werden.“ Um die Sache gehe es ihr viel zu selten: „Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt.“ Ist der Verdruss so groß, dass die 54-Jährige in der kommenden Legislatur nicht mehr als Tübinger Bundestagsabgeordnete ihrer Partei anzutreten gedenkt? „Das werde ich noch bekannt geben.“ An Verdruss gegenüber der Arbeit in der Politik würde es aber nicht liegen, stellt sie klar. Waren so viele Amtszeiten geplant? Hänsel lacht. „Da verschätzen sich viele. Selbst Gregor Gysi wurde ja nochmal für eine aktive Position gewonnen.“TAGBLATT-Sommerinterview: Heike Hänsel

Wenn sie erneut antrete, dann weiterhin mit ganzem Herzen – und ganzer Aufmerksamkeit: „Wenn ich es nochmal mache, dann mache ich nur das.“ Es gebe viele, die nebenher noch „Vorstand, Landessprecher und so weiter“ sind. Hänsel nutze lieber ihr Bundestagsmandat für Initiativen und politische Aktivitäten: „Ich habe viel Solidaritätsarbeit für Lateinamerika gemacht. Ich begleite zur Zeit den Prozess von Julian Assange und unterstütze Projekte für Flüchtlinge auf Lesbos.“

Bleibt sie im Amt, würde sich Hänsel weiterhin darum bemühen, altbewährte Gedanken in den Fokus ihrer politischen Arbeit zu legen: „Die Friedensfrage verschärft sich zunehmend.“ So sei eine atomare Aufrüstungsspirale als Antwort auf tatsächliche globale Herausforderungen eine ernste Bedrohung. „Die Pandemiepläne sind inexistent, der Klimaschutz funktioniert nicht, die Armutsbekämpfung misslingt.“ Die soziale Spaltung werde in Deutschland, Europa und der Welt zunehmen: „Da ist doch Geld für Aufrüstung die falsche Antwort!“ Währenddessen werde Deutschland als Drehscheibe der USA für völkerrechtswidrige Drohnenflüge eingesetzt. Zeit, für eine europäische Armee – auch, um von den USA unabhängiger zu werden? „Es geht nicht darum die US-Soldaten durch europäische Soldaten zu ersetzen. Das ist viel zu verkürzt gedacht.“ Es gehe ihr vielmehr darum, Konflikte generell anders zu lösen. Ein Anspruch nicht nur an Deutschland, die USA und die Mitglieder der Nato-Staaten, sondern an alle Länder: „an Russland, an China, alle.“ Die Nato ist für Hänsel ein Relikt des Kalten Kriegs, zum weltweiten Kriegsbündnis verkommen: „Wir brauchen dringend eine andere Sicherheitsarchitektur in Europa, dafür setzen wir uns ein.“ Eine Bedrohungslage, auf die eine starke Bundeswehr oder gar eine EU-Armee die Antwort wäre, sieht Hänsel ohnehin nicht gegeben – die einzige Aufgabe der Bundeswehr sei Landesverteidigung: „Wer bedroht Deutschland denn? Und wer will Deutschland angreifen?“ Auf Ressourcenkriege und die Weltlage mit Aufrüstung zu reagieren, sei „falsch“.

Die Arbeit in ihrer Fraktion schätzt Hänsel. Sie befinde sich in wichtigen und sehr diskussionsreichen Prozessen um große Fragen, berichtet sie. Zum Ende des vergangenen Jahres wurde Dietmar Bartsch an der Fraktionsspitze bestätigt und erhielt eine neue Vertreterin an seine Seite: Amira Mohamed Ali. Hänsel: „Es ging auch bei den Diskussionen zwischen Fraktion und Partei darum, wohin wir als Linke wollen.“ Die alte Spitze aus Bartsch und Wagenknecht sei stark geprägt von der Erfahrung der Agenda 2010 angetreten, den Kampf für die Abgehängten im Sinn: „Und bei dieser Schicht haben wir mittlerweile Wähler verloren.“ Hänsel setzte sich auch in innerparteilichen Diskussionen dafür ein, diese Unterstützer nicht aufzugeben und trotzdem neue Milieus für die Partei zu gewinnen: „Wir haben viele junge Aktive aus den Städten und den Bewegungen.“ Es sei der Partei bisher aber nicht ausreichend gelungen, die Bemühungen um die klassischen Arbeiter-Milieus der Linken und um die jungen Aktivisten unter einen Hut zu bringen. „Letztendlich wurde aus dieser Debatte eine Machtfrage, die sich durch den gesundheitlich begründeten Weggang von Sarah Wagenknecht relativiert hat.“

Die Spannungen seien nun kleiner: „Aber beim Parteitag müssen wir darauf Antworten finden.“ Im Bundesvorstand hat sie nun einen Vertrauten, ihren alten Weggefährten Tobias Pflüger – ehemals Tübinger, nun in Freiburg tätig. „Es steht auch die Wahl für den Parteivorsitz an, aber bis jetzt ist noch nicht bekannt, ob Katja Kipping und Bernd Riexinger weitermachen.“ In die Partei hinein will Hänsel weiterhin Klartext sprechen: „Es war aber nie mein Stil, mich zu einzelnen Personen öffentlich zu äussern.“

Mit dem Blick auf die Weltlage

Im Bundestag ist Heike Hänsel entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion. Sie gilt als Kapitalismuskritikerin, engagiert sich bei Attac und ist seit 1988 in der Friedensbewegung aktiv. Um die Jahrtausendwende beobachtete sie Wahlen im Kosovo und der Herzegowina. Ihr wurde vorgeworfen, im Syrienkonflikt an der Seite des Machthabers Assad zu stehen, damals kritisierte sie Sanktionen gegen Syrien und zog damit Unmut auf sich. Mittlerweile kritisiere „auch die UN diese Sanktionen“. Gegenüber Venezuelas Nicolas Maduro hatte sie Sympathien bekundet – und war dafür etwa vom Tübinger SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Rosemann kritisiert worden. Hänsel stellt klar: „Ich komme aus der Basis und habe sicher keine Sympathien für Herrscher.“ In der Frage von Venezuela gehe es um die Souveränität des Landes und den Umgang mit Völkerrecht. „Es dürfen nicht andere Länder bestimmen, wer in einem Land regiert. Regime-Change-Politik lehne ich ab.“ Die Folgen solchen Verhaltens ließen sich etwa auf der Krim beobachten „Der Westen kritisiert die Einflussnahme von Russland und belegt Moskau mit massiven Sanktionen wegen der Krim. Und zwar auch auf EU-Ebene.“ Gleichzeitig betreibe die Türkei Annexionen der kurdischen Gebieten in Syrien: „Und die kriegen dafür noch Waffen aus Deutschland?“ Gegen diese Doppelstandards habe sie sich oft eingesetzt: „Und ich wurde oft missinterpretiert.“

Kommentare sind geschlossen.